B. Ziemann: Katholische Kirche und Sozialwissenschaften 1945–1975

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Titel
Katholische Kirche und Sozialwissenschaften 1945–1975.


Autor(en)
Ziemann, Benjamin
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 175
Erschienen
Göttingen 2007: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
396 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Thomas Schulte-Umberg, Institut für Europäische Geschichte

Das 20. Jahrhundert ist überzeugend als Zeitalter einer «Verwissenschaftlichung des Sozialen » (Lutz Raphael) gedeutet worden, in dem reflexiv erzeugtes Wissen und akademisch geschulte Expertenkulturen massgeblich Einfluss auf die Steuerung komplexer sozialer Organisationen gewannen. In seiner Habilitationsschrift greift Benjamin Ziemann dies auf und fragt nach der Verbindung von Säkularisierung und Verwissenschaftlichung in katholischer Kirche und Katholizismus nach 1945. Grundlegend ist dafür das Festhalten am umstrittenen Säkularisierungsbegriff. Säkularisierung ist im Sinne Niklas Luhmanns Folge der funktionalen Differenzierung und der Individualisierung moderner Gesellschaften. Religion ist nicht mehr das alles überragende oder integrierende Prinzip, sondern ein Teilsystem neben anderen wie Politik, Wirtschaft, Medien, Wissenschaft und Erziehung. Aus Sicht von Religion erscheinen die anderen Teilsysteme als areligiös oder ‹verweltlicht›. Zugleich wird Religion zunehmend zur Privatsache, ihre Vorgefundenheit und Vorgegebenheit werden tendenziell relativiert. Global gesehen konnte die Reaktion von Religion und Kirche auf Differenzierung und Individualisierung entweder nach dem Muster einer die Alltäglichkeit des Glaubens vervielfältigenden Zivilreligion oder einer die Moderne ablehnenden, integralistischen Fundamentalopposition geschehen. Bekanntlich dominierte im katholischen Fall in etwa bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts das letztgenannte Muster, wobei der relative Erfolg auf einer gewissen Anpassungsfähigkeit an moderne Mittel und Wege beruhte. Dazu gehörte auch, zwar spät, aber dennoch, die Adaptation empirisch-sozialwissenschaftlicher Methoden zwischen 1945 und 1975. Erst durch sie, so der Autor, sei es möglich gewesen funktionale Differenzierung und Individualisierung in ihren Folgen für Religion und Kirche angemessen zu beobachten und nach Antworten zu suchen.

Wie dies aussah und welche Folgen daraus resultierten wird in sechs Kapiteln im Detail untersucht. Kapitel 1 widmet sich der kirchlichen Statistik, die zu Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Errichtung der Kölner Zentralstelle eine über Jahrzehnte einzigartige Institutionalisierung erfuhr. Diese Form der Selbstbeobachtung entsprach der für den Milieukatholizismus typischen Verknüpfung von Rechtgläubigkeit und – quantifizierbarem – Handeln. Von Anbeginn gab es allerdings Zweifel an der Validität der Datenerhebung, die 1977 zur stillschweigenden Einstellung der Erhebung der Zahl der Osterkommunionen führten. Aus Perspektive der kirchlichen Statistik erlebte das Milieu nach 1945 einen beachtlichen Aufschwung, erodierte dann aber seit den 1950er Jahren insgesamt stetig. Die zahlenmässige Entwicklung führte jedoch zunächst nicht zu einer generellen Umorientierung der pastoralen Praxis. Noch wurde bis heute der Blick auf die Zahlen in seiner Bedeutung nivelliert. Die statistischen Befunde erhöhten den Bedarf nach einem differenzierteren Wissen über soziale Kontexte. In Übernahme französischer religionssoziologischer Ansätze beschäftigte sich die Soziographie (Kapitel 2) mit der Frage, warum sich welche Katholiken vom rechten Handeln verabschiedeten. Soziographische Verfahren wurden seit den 1950er Jahren in verschiedenen Diözesen von einzelnen interessierten Klerikern und sodann von neugegründeten Instituten durchgeführt. Inspiriert von der Missionsbewegung war es Ziel, die sogenannten Abständigen wiederzugewinnen. Die Soziographie zeigte erstmals sozialwissenschaftlich systematisch, dass sich soziale Umweltfaktoren, allen voran die Zugehörigkeit zur modernen Erwerbsarbeitswelt, unmittelbar auf das rechte Handeln und die Kirchenzugehörigkeit auswirkten. Obwohl die Soziographie die ihr zugeschriebene Aufgabe nicht erfüllte, veränderte diese sozialwissenschaftliche Herangehensweise die Selbstbeschreibung der Kirche doch dauerhaft. Ende der 1960er Jahre war der soziographische Blick für Kleriker und interessierte Laien zum Gemeingut geworden.

Das Zweite Vatikanische Konzil (1961–1965) sanktionierte eine Öffnung der katholischen Kirche hin zur modernen, säkularen Welt und eine Redefinition der Rolle der Laien. Der Paradigmenwechsel begünstigte sozialwissenschaftliche Herangehensweisen, die nach individuellen Einstellungen und Motiven fragten (Kapitel 3). Die aus den USA stammende, nach 1945 in Deutschland eingeführte Umfrageforschung wurde allerdings zunächst mit erheblicher Skepsis betrachtet, die nicht zuletzt durch den Kinsey-Report verursacht wurde. Ein differenziertes Wissen über den jeweiligen Stand der öffentlichen Meinung im allgemeinen wie die der Katholiken im besonderen entsprach seit den 1960er Jahren jedoch verschiedenen Bedürfnissen. Zum einen scheint von der Kirchenführung durchaus die Bedeutung solchen Wissens als Instrument für die Ausübung von Leitungsfunktionen erkannt worden zu sein. Zum anderen konnte die Befragung der Einzelnen dem Verlangen nach Demokratie in der Kirche Rechnung tragen. Höhepunkt war hier die in Vorbereitung der Gemeinsamen Synode der deutschen Bistümer (1971–1975) durchgeführte Umfrage unter allen Katholiken Deutschlands. Inhaltlich flossen die 4,4 Millionen RückantwortboÅNgen kaum in den Verlauf der Synode ein. Dennoch trug die Demoskopie zur Entschärfung der massiven innerkirchlichen Auseinandersetzungen in den turbulenten Jahren zwischen 1966 und 1972 bei. In der Moderne verläuft ein Grossteil aller sozietären Kommunikation im Kontext von Organisationen. In Kapitel 4 wird beschrieben, wie die Rollen- und Organisationssoziologie seit Mitte der 1960er Jahre adaptiert wurde mit dem Ziel, die Organisation Kirche sachorientierter, wandlungsfähiger und effizienter zu gestalten. Dabei handelte es sich um einen Ansatz ‹von oben›, ähnlich etwa dem Bemühen ein Unternehmen neu zu gestalten. Ein umfassender Versuch zur Neuordnung von Bistumsstrukturen schien angesichts vergeblicher Versuche zur Lösung der Berufskrise der Priester unumgänglich. Vor allem im Bistum Münster wurde auf Basis organisationssoziologisch informierter Überlegungen ein Plan entwickelt, der unter anderem die Einrichtung von Grosspfarreien mit bis zu 100’000 Katholiken vorsah. Die Diskussion des Plans in den Gemeinden bzw. deren Pfarrkomitees zeigte jedoch zum einen, dass der Ansatz am Bedürfnis nach lokaler Beheimatung von Individuen vorbeiging. Zum anderen wurde bezweifelt, ob Kirche eine Organisation wie andere auch sei. Vieles konnte in der ursprünglich avisierten Form nicht umgesetzt werden, dauerhaft erhalten blieb etwa der Einsatz von akademisch ausgebildeten Laien in der Seelsorge neben den Priestern und die Errichtung von Pfarrverbänden.

Die in Kapitel 5 geschilderte Rezeption und der Einfluss von humanwissenschaftlichen Konzepten in der Kirche gehen über den sozialwissenschaftlichen Kontext hinaus. Sie markieren jedoch am deutlichsten die Entstehung einer anderen Form von Kirche und Katholizismus. Vor allem in den 1970er Jahren flossen zuvor abgelehnte bzw. höchst umstrittene psychologische, psychotherapeutische und gruppendynamische Methoden in die pastorale Praxis ein. Deutlich wird dies insbesondere bei neuen Konzepten zur Seelenführung der Gläubigen. Auch der innerkirchliche Dialog veränderte sich nachhaltig durch einen egalitären und kooperativen Umgangston. Für die Pastoral war entscheidend, dass es der Kirche gelang, den Einzelnen in seiner Ganzheit und nicht nur in einer bestimmten Funktion (z.B. als Arbeitnehmer) anzusprechen. Gerade jene psychologischen Einsichten und Therapiemodelle, die auf den «ganzen» Menschen in seiner psycho-physischen und sozialen Existenz gerichtet waren, stellen für die kirchliche Seelsorge seit den 1970er-Jahren ein Repertoire dar, das den kirchlichen Heilsanbietern ermöglichte, jenseits traditioneller Rhetorik den modernen Menschen anzusprechen und ihm seelische Entlastung zu gewähren – ein Angebot, das sich bis heute gegenüber anderen Therapieformen auf dem Markt der modernen Subjektivierungstechniken halten konnte. Kapitel 6 richtet den Blick auf «einige Konstellationen der kontroversen Semantik [...], mit der die Wirkungen vor allem der Soziologie auf die Kirche in der Zeit von ca. 1965 bis 1975 beschrieben worden sind» (319). Angesprochen werden etwa die öffentlich wirksam werdende Sprachgewalt von Theologen, die sich teils gegen die Vorgaben der Bischöfe richtete, und die besondere Rolle der Pastoraltheologie nach dem Konzil. Es geht aber auch um die Politisierung der Soziologie und deren Rückwirkungen auf die katholische Soziallehre und um daraus resultierende Konflikte in Universitäten oder um Auseinandersetzungen zwischen Soziologen und Amtskirche.

Die dicht geschriebene Studie Ziemanns lohnt die Anstrengung der Lektüre. Denn es lässt sich in der Tat schlüssig verfolgen, «wie und vor allem mit welchen Folgen sozialwissenschaftliche Kategorien, Erhebungspraktiken und Reformvorschläge in die routinemässigen Praktiken kirchlichen Handelns vordrangen und damit das ‹Soziale› veränderten» (13). In welchen Formen kirchlich-katholisches Denken und Leben thematisiert werden konnte und wurde, veränderte sich deutlich. Die noch in den 1950er Jahren mit ihren Sprachangeboten dominierende traditionale Pastoral wurde in den Hintergrund gedrängt. Von den importierten Neuansätzen als bleibend und in einem gewissen Sinne als erfolgreich wirksam erwies sich die Entwicklung einer den «ganzen Menschen» ansprechenden Seelsorge. Damit wurde sowohl einem Bedürfnis des Menschen in der differenzierten und individualisierten Gesellschaft entsprochen als auch dem kirchlich-religiösen Totalitätsanspruch Rechnung getragen. Zweifelsohne ist dies auch für eine allgemeine Gesellschaftsgeschichte nicht nur der Bundesrepublik Deutschland von Bedeutung. Besonders hervorzuheben ist hier jedoch, dass die Tendenz der Milieuforschung, die Jahre nach 1945 vor allem unter dem Aspekt des «Abschieds» (Wilhelm Damberg) wahrzunehmen, um einen Ansatz erweitert wird, der das kirchlich-religiöse Leben bis heute besser verstehbar und beschreibbar macht. Vor allem aber sollte das Buch der jüngsten, bedauerlichen Tendenz in Teilen der bundesdeutschen Kirchengeschichtsschreibung zu einer eher positivistischen Herangehensweise entgegenwirken.

Zitierweise:
Thomas Schulte-Umberg: Rezension zu: Benjamin Ziemann, Katholische Kirche und Sozialwissenschaften 1945–1975 (=Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 175), Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2007. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 103, 2009, S. 360-362.

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